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„Und helft den Menschen zu leben!“

von Prälat Michael H. F. Brock – Ich möchte uns eine Szene in Erinnerung rufen – eine biblische Szene – die so überhaupt nicht in diese Jahreszeit passt. Es ist die Szene in der Bibel, da Jesus gefangen genommen wurde und sich die Freunde aus dem Staub machten – alle miteinander ohne Ausnahme. Aus Angst, vor Furcht, aus Scham. Einer von ihnen war Petrus, der kauerte sich an ein Lagerfeuer im Hof, zog seine Kapuze über den Kopf, wollte nicht erkannt werden.

Und das kann ich dieser Tage gut verstehen. Es gibt einfach Situationen – auch was die Mitgliedschaft von Kirche angeht – da möchte man eigentlich nicht dabei gewesen sein. Auf die Frage einer Magd am Lagerfeuer: „Gehörst du eigentlich auch zu denen?“, oder dann noch einmal überspitzt formuliert: „Du bist doch auch einer von seinen Freunden?“, sagt er: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“

Jetzt leben wir nicht mehr in biblischer Zeit, aber doch in einer Zeit, in der ich merke und spüre, dass viele Menschen vor der Institution Kirche davonlaufen. Nun ist sie nicht gefangen genommen worden, unsere Kirche – wenn Sie mir diesen biblischen Übertrag verzeihen mögen. Aber möglicherweise ist sie ja in sich selber gefangen. Möglicherweise hat sie sich verstrickt, in Machthunger, in Korruption, in der Bevormundung von Menschen, was Moral und Wahrheitsfragen angeht. Ja, mehr noch, vielleicht verwechselt sie das Reich Gottes, das sie ja zu verkünden hat, mit sich selber. Vielleicht darf sie dieser Tage für sich nicht in Anspruch nehmen, glaubwürdig zu sein. Und so sollte jede Predigt, die den Versuch unternimmt, Menschen in ihrem Leben zu begleiten, im Namen der Kirche äußerst vorsichtig sein. Vielleicht verbietet sich das sogar, Menschen zu raten.

Jedenfalls könnte ich mir gut vorstellen, dass als natürliche Reaktion auf die Frage: „Gehörst du auch dazu?“, „Gehörst du zu dieser Kirche in diesen Tagen?“, wir verschämt mit Petrus antworten müssen: „Ich kenne diese Kirche nicht.“ Will heißen: Ich will auch in der Form, wie sie sich präsentiert, mit ihr heute nichts zu tun haben. Ich schäme mich dieser Kirche.

Aber noch einmal: Der biblische Vergleich hinkt insofern, weil wir als Kirche nicht nur von außen in Frage gestellt werden. Das erledigen wir dieser Tage schon selber, und es ist richtig, wenn wir sagen, wir müssen uns als Kirche in Frage stellen. Dabei möchte ich gerade in diesen Tagen nicht auf andere zeigen.


Das wäre mir zu einfach.


Wenn wir über Glaubwürdigkeit von Kirche reden, müssen wir über unsere eigene Glaubwürdigkeit reden.


Wenn wir davon reden, dass Kirche die Realität aus dem Blick verloren hat, dann müssen wir fragen, ob wir die Realität der Menschen, für die wir Verantwortung tragen, noch im Blick haben. Und wenn wir von einer neuen Demut reden, müssen wir fragen, ob wir für uns schon verstanden haben oder fühlen oder in uns lebendig wissen, was Demut heißt.


Es gab eine Zeit, da hatte die Kirche das Monopol für die Werte in unserer Gesellschaft, und sie wusste exakt zu sagen, was richtig und gut, was wahr und unwahr, was wahrhaftig und unwahrhaftig ist. Heute müssen wir konstatieren: Diese Welt, diese Gesellschaft hat sich verändert. Niemand – auch nicht die Kirche – darf für sich in Anspruch nehmen, allein Träger von Wahrheit zu sein. Der Mensch von heute ist gewohnt, zu wählen. Und er hat ein Recht dazu.

Der Mensch von heute beansprucht für sich, selber denken zu wollen und zu können, selber zu entscheiden und wählen zu dürfen. Also haben wir uns mit unseren Werten und Vorstellungen in einer Welt der Konkurrenz zu behaupten. Und das wissen wir alle: In einer konkurrierenden Welt wird derjenige Marktführer sein, dessen Produkt mit der Werbung übereinstimmt und noch dazu die Menschen erreicht.

Also: Unser Produkt ist die Menschlichkeit. Frei nach dem biblischen Spruch der Aussendung Jesu an seine Jünger: „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus.“ Unsere Werbung ist „In unserer Mitte – Der Mensch“. Und nur wo diese beiden Dinge übereinstimmen, sind wir glaubwürdig. Die gelebte Menschlichkeit in unseren Häusern, in unseren Beziehungen, in unserer Art, Menschen zu begleiten, muss sich messen lassen an unserer Behauptung.

Das zweite ist, wir dürfen nicht dogmatisch über den Menschen stehen mit all dem, was wir zu wissen glauben, sonst wären wir nicht anders als eine Kirche, die Wahrheit verkündet über unsere Köpfe hinweg. Der Satz „Autonomie für alle und Teilhabe, wo immer es geht“ darf keine Parole unserer Fachtagungen sein. Und Autonomie darf sich nicht beschränken auf Hausordnungen und Tagesabläufe.
Das kann nur gehen, wenn wir wiederum nicht von unseren Theorien und Konzepten ausgehen, sondern von der Bedürfnislage derer, die uns anvertraut sind. Dasselbe gilt für die Gedanken der Inklusion. Wir dürfen nicht ideologisch Menschen freisetzen in Kommunen und Städten ohne die Berücksichtigung ihrer Bedürfnislage. Vorstellungen von Autonomie dürfen unsere Bewohner auch nicht zu einsamen Menschen machen.

Ich will es auf den Punkt bringen. Hören wir auf, auf Kirche zu schimpfen. Hören wir vor allem auf, sie als Institution wahrzunehmen, weil das hieße, sie als unveränderlich zu überhöhen. Sie ist und darf nicht sein ein Bollwerk der Geschichte.
Sie ist nicht einmal wichtig.
Sie ist im besten Fall eine Hilfsorganisation in Sachen „Glauben“. Und egal wer sie vertritt, muss sich allein messen lassen an der einzig wichtigen Frage, ob sie dem Menschen zum Leben verhilft.

Wenn sie das bejahen kann, wenn Sie das bejahen können, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Liebenau in all ihren Tochtergesellschaften, ob am Krankenbett oder bei einem sterbenden alten Menschen. Ob in der Begleitung eines Menschen mit Behinderung oder in unzähligen Dienst- und Hilfeleistungen, die wir anbieten, ob in der Schule oder in der Ausbildung, in der Landwirtschaft oder im Krankenhaus, wir müssen uns die Frage stellen: „Diene ich und helfe ich einem Menschen zum Leben?“
Oder im Umkehrschluss eben: „Steht im Mittelpunkt all meiner Interessen der Mensch, für den ich in diesem Augenblick zuständig bin und mich verantwortlich weiß?“ Eine jede Institution – sei es die Kirche, sei es die Stiftung –, die in Gefahr steht, sich von ihrer eigenen Identität zu verabschieden, um quasi Selbstzweck zu werden, steht in der Gefahr, zwecklos zu werden.

Das meine ich mit dem letzten Punkt – mit der Demut. Die Menschen rennen doch der Kirche nicht davon, weil ihre Botschaft unglaubwürdig wäre. Und die Menschen rennen der Kirche doch nicht davon, weil sie ihren Glauben verloren hätten. Die Menschen rennen davon, weil Menschen die Kirche zu einer Institution gemacht haben, die sich selber für wichtiger hält als ihre Botschaft. Ich habe in einem Aufsatz über die Glaubwürdigkeit der Kirche in diesen Tagen folgenden Satz gelesen: „Denkende Menschen im 21. Jahrhundert haben den Eindruck, dass die Rede von Gott wirkt wie die Rede, die von einer Gefangenschaft erlösen will, die keiner mehr hat. Der Glaube wirke wie ein Heilmittel für eine Störung, die keiner mehr empfindet. Wie die Medizin für eine Krankheit, an der keiner mehr leidet.“

Das mag uns zum Schmunzeln anregen oder tief traurig machen. Aber ich will es anders herum positiv wenden. Wenn wir von Gott reden (und ich meine jetzt nicht unsere Gebete und Lieder und ich denke im Moment auch gar nicht an unseren Gottesdienst), wenn wir von Gott reden, lässt sich das in unsere ganze menschliche Haltung übersetzen. Sind wir Menschen mit einer positiven Lebenseinstellung? Fühlen wir uns selber wertgeschätzt? Gewollt? Beschenkt? Begabt? All das, was wir damit verbinden, wenn wir sagen: „Gott hat dich ins Leben gesetzt.“? Dann können wir es auch verschenken: Wertschätzung, Aufmerksamkeit, Hingabe, Fürsorge. Denn die Demut besteht darin zu sagen: Ich kann es, weil es mir vorher geschenkt wurde.

Manchmal sagen wir, unsere Glaubwürdigkeit hänge daran, ob Menschen durch uns heil werden – dabei stehen die Worte „heil werden“ für jede Störung. Dann stellt sich die Frage, ob wir die Sensibilität haben, Störungen wahrzunehmen. Ob uns auffällt, wenn es knirscht in der Institution oder zwischen Menschen. Und ob wir in der Lage sind, heilsam einzugreifen, behutsam, und ob die Medizin, die wir verteilen, etwa heißen könnte: Dankbarkeit, Respekt, Toleranz, Wertschätzung – eben das, was jeder Mensch zum Leben braucht. Und die größte Demut wird wohl sein, dabei nicht auf andere zu zeigen, sondern, wenn wir von Glaubwürdigkeit reden, von unserer eigenen Glaubwürdigkeit zu reden. Ich kann das im Großen beschreiben, wenn ich über die Kirche rede. Und ich kann es ein wenig kleiner machen, wenn ich über uns als Stiftung rede. Und es auf den Punkt bringe: Wir sind immer nur der Teil von Kirche oder Stiftung, der wir selber sind.

Ich wiederhole: Wir sind immer nur der Teil von Stiftung, der wir selber sind. Ich kann es dann immer nur sagen mit den Worten, die Jesus den Seinen sagte: „Geht und verkündet. Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke. Weckt Tote auf. Macht Aussätzige rein. Treibt Dämonen aus. Und helft den Menschen zu leben.“  Prälat Michael H.F. Brock Vorstand 

 

Stiftungstag 2013 in Liebenau