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„Ich überwinde die Grenzen der Herzen.“

von Prälat Michael H. F. Brock – Sommerfest 2014 in Liebenau

Auf dem Weg nach Jerusalem zog Jesus durch das Grenzgebiet von Samarien und Galiläa.  Als er in ein Dorf hineingehen wollte, kamen ihm zehn Aussätzige entgegen. Sie blieben in der Ferne stehen und riefen: Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns! Als er sie sah, sagte er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern! Und während sie zu den Priestern gingen, wurden sie rein.

Weisen wir es nicht gleich von uns: Es gäbe keinen Aussatz mehr! Ich sage: Doch: Es gibt ihn noch – den Aussatz. Ja, es gibt sie immer noch: Hier die Welt der so genannten Gesunden und Normalen und dort die Welt der Ausgestoßenen und Unnormalen. Nur, dass wir Menschen bis heute unter anderem Namen ausgrenzen. Ich versuche zu übersetzen: Achten wir die Würde eines jeden Menschen? Erlauben wir die je eigene Identität, wertschätzen wir seine Eigenheiten und Begabungen und gewähren wir Autonomie und Selbstachtung? Ich halte inne und behaupte: Die Angst im Menschen vor dem Menschen, der anders ist – grenzt aus.

Bleiben wir biblisch und bleiben wir ehrlich. Dieser Ort ist als ein Ort der Ausgestoßenen entstanden. Hier sammelten sich Menschen, die keine Heimat fanden. Sie fanden nirgends Heimat, in Tettnang nicht, in Ravensburg nicht, in Stuttgart nicht. Hier sammelten sich die Ausgestoßenen, die Aussätzigen. Menschen ohne Sprache, die als verstümmelt angesehen wurden an Geist, Leib und Seele.

Nur damit unsere Lebenswelten „rein und schön“ bleiben konnten. Es ist eine einsame „Schönheit“. Gefällt Ihnen der Begriff „Schönheit“ nicht? Mir auch nicht. Es ist eine hässliche „Schönheit“, die nur durch Ausgrenzung „schön“ bleiben kann. Wie viele solche Orte gibt es?

Wenn wir alles ausgrenzen, was wir nicht beherrschen und nicht verstehen und nicht achten wollen; wenn wir alles ausgrenzen, was unserer eigenen Größe, Intellekt oder Begabung nicht entspricht oder unser Denken nicht erreicht, werden wir Obacht geben müssen, dass nicht die ganze Welt eine Welt der Ausgestoßenen wird.

Es ist dies die Gründungsgeschichte unserer Stiftung, dass Menschen mit und um Adolf Aich den Ruf dieser Ausgestoßenen in ihren Herzen zu hören in der Lage waren.

Und wenn wir durch die Jahrhunderte gehen in unseren Gedanken, dann muss das erste Wort „Erbarmen“ sein. Ein Herz, das die Not verspürt, ein Herz, das uns zu einer Tat der Fürsorge treibt. Ein Verstand, der sich nicht abfindet mit der Ausgrenzung von Menschen. Mag sein, dass aus heutiger Sicht und mancher Inklusionsdebatte Orte wie diese noch immer am Rande stehen. Aber es gibt doch einen entscheidenden Unterschied. Menschen sind hier niemals allein und niemals allein gelassen. Für jeden einzelnen gibt es einen einzigen oder viele, in deren Herzen die Einmaligkeit und Schönheit derer auflebt, die mir gegenüber sind oder gegeben sind in unsere Obhut.

Wir müssen die Geschichte von den zehn Aussätzigen neu schreiben, weil sie uns sonst zu alt vorkommt und zu weit weg. Wir finden es primitiv, dass eine Kultur in ferner Zeit – damals Israel – alle Menschen von sich wies, vor denen sie Angst hatte, weil sie einen Makel an sich trugen, mit denen die so genannte normale Gesellschaft nicht umzugehen vermochte. Es war buchstäblich ein Aussatz – vielleicht nur rein äußerlich.

Und sie riefen: „Halt dich fern von hässlichen Menschen, nur Schönheit hat Raum in unseren Herzen und in der Mitte der Gesellschaft. Sprichst du meine Sprache nicht, wie soll ich mit dir reden? Die Sprache der Normalität ist mehrheitlich festgelegt. Kann ich mit dir ringen um den rechten Platz in der Gesellschaft oder hast du meine Sprache nicht? Dann werde ich dich aussetzen. Zuerst der Lächerlichkeit.“

Und so geschah es. Menschen haben Menschen ausgesetzt, eingesperrt, hinausgeworfen aus der vermeintlichen Normalität ihrer Gesellschaft und mit einem Verbot belegt: „Du gehörst nicht mehr zu uns.“

Sei es der Hang zur Perfektion oder sei es die eigene Angst, die dazu führt, Menschen, die anders sind in ihrer Andersartigkeit, entfernen zu wollen aus unserer Mitte. Es sind die Aussätzigen von damals, die Kranken, die Leidenden, die Entrechteten, die Verzweifelten, die mit Angst erfüllten, die mit einem Makel behafteten Menschen. Ja die Angst geht noch tiefer, möglicherweise sind sie ansteckend in ihrer Verlorenheit. Gibt es eine Spirale der Angst, die Menschen ausstößt, Alte, Kranke, Menschen mit Behinderung, nur damit eine Illusion bewahrt bleibt und bewahrt wird, es gäbe eine angstfreie Welt?

Einst nannten wir die Liebenau Heil- und Pflegeanstalt. Und ich sage: Ja, es war doch schon viel, Menschen aus dem Elend Essen, Nahrung, Gebet, Arbeit und Heimat zu schenken. Schätzen wir die Epoche nicht zu gering und besser: Schämen wir uns nicht dafür, selbst wenn diese Orte zur ausgegrenzten Zone des Lebens wurden.

Mag sein, dass man uns in den vornehmen Städten nicht gewollt hat. Aber hier gab es Menschen, Männer, Frauen, Ordensfrauen und Priester, für die diese ausgegrenzten Menschen ein Leben wert waren – Atem, Kraft, Trost, Liebe, Fürsorge, Barmherzigkeit. Und es bedurfte der Anstrengung von Generationen, bis der Ruf laut wurde, ein Weckruf der Normalität, der da hieß: Kein Mensch darf heute mehr ausgegrenzt werden. Kein Mensch darf bemitleidet werden. Jeder hat das Recht auf die je eigene Identität, auf seine Eigenheiten, auf seine ureigene Würde und Autonomie.

Für keinen Menschen reicht nur Erbarmen. Wenn da steht – biblisch – dass Jesus den Ruf der Aussätzigen, die um Erbarmen schrien, hörte, sprach er einen merkwürdigen Satz: „Geht, zeigt euch!“, schrie er. „Zeigt euch den Priestern“. Wir würden heute sagen: Zeigt euch der Öffentlichkeit, der Kirche, der Politik, der Gesellschaft. Zeigt euch und fordert ein, was nicht gewährt wurde: Selbstbestimmung, Förderung der Begabungen. Ein Recht auf Teilhabe in der Arbeitswelt, Wahlfreiheit in der Art zu wohnen oder den Lebensstil zu wählen. Und wer keine Stimme hat, dem leihen wir sie – laut und hörbar.

Meine feste Überzeugung ist: Ausgrenzung von Menschen und ausgegrenzte Orte für Menschen sind heute nicht mehr Orte wie Liebenau, Orte der Ausgrenzung und der Abgrenzung sind heute ausschließlich unsere Herzen und unser Verstand.

Die Definition – damals wie heute – dessen, was normal ist und was gesund, was uns ängstigt und was uns glückt, ist heute der Ruf nach unverbrüchlichen Werten, ja die umfassende Geltendmachung universaler Menschenrechte für all jene, die sie für sich selber nicht einfordern können.

Wenn es nach uns, der Stiftung Liebenau, geht, werden wir Menschen, die wir begleiten, ob sie alt oder krank sind oder eine Behinderung haben an Geist und Seele, immer in die Mitte der Gesellschaft führen. Das mögen Wohngruppen sein in Meckenbeuren und anderswo. Das mögen Heime sein für Pflege und Fürsorge. Das mögen Orte sein, wie dieser, an dem wir hier stehen. Der Maßstab wird und muss immer sein, ob Menschen die ihnen angemessene Begleitung und Versorgung und Hilfestellung zum Leben bekommen. Der Maßstab ist niemals ein Ort, sondern die Art und Weise, die Person zu achten. Es ist geradezu peinlich, dass es noch immer einer Rechtfertigung bedarf, ob es dabei große und kleine Versorgungseinheiten geben muss – von der ganz persönlichen ambulanten Betreuung bis zur höchst spezialisierten, komplexen medizinischen Versorgung. Der entscheidende Punkt ist doch nicht die Frage um Orte und Größen. Die Frage ist: Halten wir die größtmögliche Vielfalt an Wahlmöglichkeiten vor, in denen Menschen am besten – und gelungen – sie selber sein können und, wo immer sie leben, in ihrer Würde geschützt und geachtet sind wie wir alle?

Vielleicht gibt es eine gute Einübung in meinem Denken und in meinem Fühlen, damit ich wahrnehme, wie Jesus es tat: In meinem Vermögen hören kann, wie Jesus es tat. In meiner Wahrnehmung es sehen kann, wie Jesus es tat, dass jede Form von aussätzig gewordenen Lebens wieder hereingerufen gehört in die Mitte unseres Bewusstseins. Vielleicht sollte ich abends vor dem Spiegel stehen und sagen „Komm dir nicht zu gesund vor“, „Komm dir nicht zu gescheit vor“, „Komm dir nicht zu schön vor“ und „Nimm dich nicht wichtiger als andere Menschen“ und am entscheidendsten wohl „Fühle dich nie wertvoller als ein anderer Mensch“. Um einen anderen Menschen in seinem Leben anzunehmen – vielleicht täte es gut, bei einem Blick in den Spiegel zu sagen: „Das bin ich selbst – elend, krank, alt und irgendwo auch behaftet mit einer Behinderung. Und ich wünschte mir so sehr, ein anderer würde sprechen: Komm her. Ich überwinde die Grenzen der Herzen.“

Und er hielt Gemeinschaft mit ihnen, mit denen, die im Elend waren, und es ward ein unwahrscheinliches Glück. Ich will nicht mehr feiern mit den allzu Mächtigen und allzu Großen und allzu Wichtigen. Lasst uns feiern miteinander heute und lasst es sein ein Tag der Dankbarkeit und Wertschätzung, dass wir bei jenen sein können, die er herausrief aus ihrer Verlassenheit. Und sprach: Es ist nicht die Frage nach Erbarmen, die sich stellt. Nein, du hast ein Recht auf dich selbst und wir die Ehre, dich zu begleiten.

Prälat Michael H.F. Brock Vorstand