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Sehnsucht erwacht mir nach dem Leben

von Prälat Michael H. F. Brock – 10 Jahre Kinderhospiz St. Nikolaus, Bad Grönenbach

Sehnsucht erwacht mir nach dem Leben Als der Tod vor der Tür stand, um uns das Liebste zu nehmen, was einem Menschen je geschenkt wurde, unsere Kinder, da verrammelten wir die Türen und stemmten uns dagegen und wollten ihn nicht einlassen.

Tod, du kannst nicht nehmen, was kaum gelebt hat. Nur die wenigen Tage, Stunden und Jahre. Und wir schrien den Tod an mit aller Gebrochenheit, tränenerfüllter Stimme und zitternden Händen: Geh vorüber, geh und komm wieder, wenn das Leben voll ist und die Wege weit waren. Komm nicht bei der ersten Liebe.

Und wir halten die Hand so jungen Lebens und würden ihm so gerne wünschen: Die ersten Schritte, das erste Wort, die kühnen Gedanken und die weiten Träume.
Wir haben es doch versucht, dir alle Fragen zu beantworten: Mama, der erste Schnee, woher das Blau des Himmels, woher der Regen und die Tränen, wie geht der erste Tanz? Vater: wie viel Leben gibt es und was ist der Himmel? Was werde ich einst lieben? Und Sehnsucht erwacht mir nach dem Leben. Und doch pocht an der Tür der Tod, den wir um nichts in der Welt einlassen werden. Und spüren doch, wie machtlos wir der schwarzen Nacht entgegengehen.

Lange Zeit haben wir geschwiegen vor dem Tod. Ja, wenn er uns erreicht in späten Jahren, vielleicht, aber nur vielleicht, werden wir ihn umarmen. Wenn er kommt als Erlöser, und wir dem Himmel reiches Leben schenken. Wenn wir weise genug geworden sind, dass wir erahnen, dass alles zusammengehört, das Leben und der Tod, vielleicht dann, werden wir dem Tod entgegengehen.

Und manche habe ich gesehen, die im Herzen voller Dankbarkeit für das Leben in Liebe Abschiednehmen konnten und mit betagter Stimme den Kindern ihre Liebe versprachen über den Tod hinaus. Und wie ein Atemhauch des Himmels sich die Flügel des Lebens legten um ein geliebtes Herz.

Und Menschen, die nicht glauben, werden sagen: und doch ich habe gelebt, wenigstens was menschenmöglich war. Vielleicht stehen auch sie voll Bitterkeit und schalem Hohn einst vor jener Tür, die alles für uns zum Ende bringt. Hinab in den Abgrund, hinauf in den Himmel. Wer mag das sagen?

Und ich sehe Menschen schreien vor Wut, sich windend vor einem Gott, den keiner begreifen mag. Gott, Vater sieh: dies Leben ist doch deines. Du gabst es mir doch gerade noch in meine Arme. Alle Liebe wollte ich ihm schenken, die Welt wollte ich mit ihm erobern. Nur meine kleine Welt. Ich hätte dich so gern genährt und in den Türrahmen das Leben geritzt wie du wächst. Ich hätte dir die Lieder dieser Welt gesungen und dich die Bücher gelehrt, und an den Tisch hätte ich dich geführt, der von Versöhnung spricht und Leben uns verheißt.

Heut steh ich voller Tränen vor dem Leben, das du mir wieder entreißen wirst und ich verstehe es nicht. Ich kann meinen Gott nicht begreifen und werde mich nicht abfinden mit euren Gebeten, die mir den Schmerz nicht nehmen können und meine Verzweiflung nicht aufwiegen werden. Ich höre Väter schreien und Mütter weinen, und Kinderlachen verstummt an jenem Tag, da der Tod anklopft und sich nicht abweisen lässt. Und dann von fern, aus meines Herzens Kammer, spricht mir eine Stimme. Ich kann dir das Leben nicht erklären und ich habe auch keine Antwort auf deinen Schmerz. Ich weiß nur eins. Kein Mensch darf in seiner Trauer allein sein. Also öffne dein Haus und lass die verzweifelte Seele herein, bevor das Tor des Lebens sich schließt.

Und also bauten wir ein Haus, das an der Schwelle jenes Tores steht, das immer neu sich schließt und öffnet wieder, kommt die Zeit. Auf das Warum haben wir bis heute keine Antwort gefunden und werden darüber schweigen, denn kein Mensch wird je den Tod verstehen. Doch eines soll und wird es sein. Es soll noch einmal Herberge sein, eine letzte Rast bei Freunden, bevor du gehst.

Noch einmal Spiel und Tanz vor jenem letzten Atemzug, der uns zerreißen mag. Noch einmal lass Musik dir sein, der nächste Tag ein Augenblick der Freude. Daraus schöpfen wir die Kraft, sie zu begleiten, die von uns gehen, kommt der Tag. Vielleicht sehnsüchtiger, vielleicht unter Tränen, vielleicht mit Wut und Hass im Bauch, und doch mit aller Liebe unseres Herzens. Hier ist nochmal ein Ort zum Leben. Ja, das will es sein: unser Hospiz. Noch einmal Ort des Lebens. In Händen, die Geborgenheit und Schutz dir sind in deinen letzten Jahren – Tagen – Stunden.

Hier sollst du finden: Hände, die pflegen; Gesichter, die lachen; und du sollst spüren: Du bist geliebt, mit allen, die zu dir gehören. Hier ist der Hort für euch alle: die ganze Familie soll spüren und darf fühlen. Es gibt auch den geliebten Augenblick. Und nichts darf ins Vergessen münden. Hier stehen die Fahnen, die ihr selbst gemalt, die Steine, die ihr schwer getragen, häufen sich zum Mahnmal des Lebens. Hier soll noch einmal Verzweiflung sich ins Leben wenden. Ja, das sind wir: die Herberge, die letzte Rast vor der großen Reise in eine Welt, die keiner kennt, und doch begleitet Sehnsucht diesen Weg. Und also lasst uns doch darüber reden: Sterben, so schwer es ist, ist Lebensaufgabe für uns Menschen. Und mag alles uns dagegensprechen. Es lohnt den ersten Augenblick wie den letzten, es erspürt zu haben: das Leben. Und mag uns bitter sein der kurze Weg, so lasst ihn uns doch so gestalten, dass er vom Leben spricht. Ich bin dankbar für jedes Kind, das bei uns ein wenig Menschlichkeit erspürt und Freude hier gefunden hat, inmitten seines Leides. Es ist mir Trost, dass wir ein wenig beistehen durften den Eltern und Geschwistern auf ihrem Weg des Abschieds. Und in mir kommt ein wenig Glück, wenn ich die vielen Menschen spüre, die ihre Kraft und ihre Sorge schenkten so vielen, die bei uns nach Herberg fragten in der Zeit.

 

Heut sind wir hier vereint: Familien, die einst ein Kind durch jene Türe gehen sahen, die einst auch uns wird offenstehen. Die Pfleger sind es und die Ärzte, die Krankenschwestern und der ganze Freundeskreis. Wir alle, die wir dem Hospiz verpflichtet sind. Die Gönner auch und viele Spender. Wir alle haben guten Grund zu danken, dass wir dem Tod noch ein paar gute Stunden stahlen in unserem Haus. Und bitten heute – in tiefstem Grunde ein Gebet: Gott Vater, nimm hin unsere Kinder und vollende jeden kleinen Augenblick in die Unendlichkeit des Lebens.

Das allein ist unsere Bitte. Lass das Leben, das uns gestorben, bei dir nun neu erwachen. Und wenn es fragt auch dich aus ganzem Herzen. Dann gib auch du deine Ratlosigkeit ruhig zu. Denn du nahmst uns das Leben ja nicht. Das bist du nicht, ein Gott, der fluchend Leben nimmt. Du bist der Gott, der Leben einst geschenkt. Du bist es, der es nun entgegennimmt. So sei es dann in allem Schmerz gesprochen, das letzte leise, tief empfundene Gebet. Nimm du entgegen, was uns einst geschenkt und wahre du das Leben unserer Kinder für jetzt und Ewigkeit.