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„Party bei Levi“

von Prälat Michael H. F. Brock – Sommerfest 2016 in Liebenau

Als Jesus von dort wegging, sah er einen Zöllner namens Levi am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Levi auf, verließ alles und folgte ihm. Und er gab für Jesus in seinem Haus ein großes Festmahl. Viele Zöllner und andere Gäste waren mit ihnen bei Tisch. Da sagten die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten voll Unwillen zu seinen Jüngern: Wie könnt ihr zusammen mit Zöllnern und Sündern essen und trinken? Jesus antwortete ihnen: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten. Sie sagten zu ihm: Die Jünger des Johannes fasten und beten viel, ebenso die Jünger der Pharisäer; deine Jünger aber essen und trinken. Jesus erwiderte ihnen: Könnt ihr denn die Hochzeitsgäste fasten lassen, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam genommen sein; in jenen Tagen werden sie fasten. Lk 5, 27-35

Manchmal frage ich mich, ob Gott sich verbessert hat oder gar verschlechtert, als er entschloss, dass sein Sohn auf dieser Erde geboren werde. Und ich frage mich, ob sich die Welt verändert hat, verbessert hat, gewandelt hat – nach Leben und Wirken Jesu. Und ich frage mich, ob Tod und Auferstehung Jesu die Ewigkeit verändert hat. Zynische Geister unter uns werden anmerken, dass jemand, der aus dem Himmel geboren wurde, sich auf Erden gar nicht verbessern kann. Wer die Ewigkeit gesehen hat, all das, was wir mit dem einen Wort des Himmels oder des Paradieses oder der Vollendung umschreiben wollen, kann doch mit der Begrenztheit, Anfälligkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Welt sich nicht ernsthaft verbessert fühlen. Der Allmächtige taucht ein in die Machtlosigkeit reiner Menschlichkeit. Diesen Zynikern möchte ich entgegenhalten, dass es einer unheimlichen Größe entsprechen muss, Vollkommenheit zu tauschen mit Gebrechlichkeit. Dass es einer Sehnsucht nach Nähe entsprechen muss, Allmacht mit Begrenzung zu tauschen. Und dass es einer unendlichen Weite und Liebe bedarf, die Zerbrochenheit aufzusuchen und Allmacht und Vollkommenheit abzulegen.

Den Zynismus in meine Glaubenshaltung überführt, heißt dann aber, das Heilige mischt sich ein im Unheiligen. Das Reine lässt sich finden und auffinden im Unreinen und in der größten Zerbrochenheit finde ich durch die Geburt des Sohnes Stabilität und Halt. Und so lese ich biblische Geschichte und göttliche Entscheidung: Gott mischt sich ein ins Weltliche. Er taucht ein ins Menschliche. Und lässt sich ein auf die begrenzten Möglichkeiten des Menschen, um diese Welt zu heiligen.
Er, der unfassbar ist und war und bleibt, kommt und mischt sich ein. Er wird Teil der Struktur dieser Welt. Und um es auf die Spitze zu treiben, wird er aufwachsen in den Höhlen der Unbedeutsamkeit in Nazaret. Er wird als Asylantenkind durch Ägypten ziehen und in die Lehre als Steinmetz gehen und auf die Suche nach sich selbst und seinem Glauben – wie wir. Die Lehre seiner Zeit als Vorbild, Mutter und Vater, die Schriften der Vergangenheit, die er in den Zusammenhang seines eigenen Verstehens und Erlebens bringt. Und wie wir wird er sich entscheiden müssen. Tag für Tag neu. Wie er seinen Glauben in Beziehung setzt zu seinem Leben.


Wir meinen, wenn wir die Bibel lesen, vieles theologisch übersetzen zu sollen. Gleichnisse nur als Lehrstücke? Was aber wäre, wenn wir aus den Zeugnissen schlicht und ergreifend reale Entscheidungen des erwachsenen Jesus lesen dürften, die er gefällt hat in seinem Verstehen von Menschlichkeit, menschlichem Leben, Glauben an Gott und der Ursprünglichkeit des Zusammenhangs zwischen unserem Leben und Gottes Wirklichkeit, die uns umgibt. Und die Schlagzeile hieße „Party bei Levi“. Und so war es, der erwachsene Jesus findet sich beim Zöllner Levi, der merkt, Jesus nimmt ihn wahr, obwohl er vom Volk verachtet wird in seiner Rolle als Steuereintreiber. Er hört den bedeutenden Satz, herausgerufen aus der Isolation des Mächtigen, „Folge mir nach“, und lässt alles liegen und veranstaltet ein Fest, Jesus zu empfangen. Den zu empfangen, der ihn angesprochen hat. Und es sammeln sich um ihn Zöllner und Sünder. Also all jene Menschen, die in der guten Gesellschaft der damaligen Zeit – und übersetzt „in der guten Gesellschaft von heute“ – nichts zu suchen haben. Er sammelt um sich jene, die menschlicher Verachtung preisgegeben sind. Er feiert mit jenen, die nichts zu feiern haben und auf die verächtlichen Hinweise der Schriftgelehrten und Pharisäer, ob er denn nicht wüsste, was sich gehört und wo man als anständiger Mensch sich rumtreibt oder eben auch nicht, sagt er den entscheidend menschlichen Satz, der aber zutiefst durchdrungen ist von seinem Glauben: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte, sondern Sünder zur Umkehr zu rufen“.

 

All jene also, die immer schon wissen, was gut und böse ist; all jene also, die immer schon wissen, was richtig und falsch ist; jene also, die darüber bestimmen wollen, wer zu einer Gesellschaft gehört und wen man meiden soll; jene also, die sich selbst zu den Gerechten zählen, spricht er in seiner Botschaft gar nicht an. Weil er weiß, dass man jene, die sich schon für sich selbst entschieden haben, nicht zum Blick für den anderen überzeugen kann. Und so, als verstünden sie wirklich nicht – jene Pharisäer und Schriftgelehrten –, worauf es hinausläuft bei der Entscheidung für oder gegen Christus, versuchen sie ihn mit dem größten Propheten in Verbindung zu bringen und ihm klarzumachen, wie falsch er liegt. „Schau, selbst die Jünger des Johannes halten Fastenzeiten und halten Flehrufe ab, deine aber, sie essen und trinken und lassen es sich gut gehen.“ Dahinter steckt der Vorwurf, Jesu würde die formalen Gesetzen Israels nicht einhalten, die doch garantieren wollen, dass wir vor Gott gut dastehen. Er aber führt uns vor Augen, was uns gut sein lässt vor Gott. Wenn er den Satz ihnen entgegenschleudert: „Wie könnt ihr die Gefährten des Bräutigams zum Fasten anhalten, solange der Bräutigam bei ihnen ist?“

 

Ich will es uns übersetzen: Wozu dient euer Fasten, eure Gebote und eure Vorschriften vor Gott, wenn ihr den Menschen aus dem Blick verliert. Jene, die ihr Sünder nennt. Jene, die ihr ausschließt aus der Gesellschaft. Kranke, Alte, Menschen mit Behinderung, Menschen, die sich schwer tun in unserer Gesellschaft, Menschen, die einfach anders sein wollen oder müssen. Und tun wir nicht so, als wäre das alles eine ferne Zeit und ferne Kultur. Jesus leugnet ja nicht, dass diese Welt krank ist. Krank an Gerechtigkeit, die fehlt. Krank an Hunger, der nicht gestillt ist. Krank an Sehnsucht, die nicht mehr erspürt wird. Krank an Macht, die wenige festhalten. Krank an Geld und Besitz, der vielen nicht mehr zugänglich ist. Krank an Leidenschaft, die die Herzen nicht mehr erreicht. Krank an Hoffnung, die erstorben ist. Und er wendet das Blatt, und er will sagen, das alles ist wahr, und das alles erlebe und erleide ich auch, und dennoch werde ich, solange der Bräutigam noch unter uns ist, feiern und festen. Und der Bräutigam, liebe Schwestern und Brüder, ist nicht Jesus selbst. Es ist Jesu feste Überzeugung: Solange die Welt noch durchdrungen ist vom Geist Gottes, solange diese Welt noch lebt im Lichte Gottes, solange noch ein Funken Hoffnung ist, ein Brosamen Sehnsucht und ein Herz voller Leidenschaft, das sich auf Gott beruft, gibt es keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern jeden Tag ist Anlass zu festen und zu feiern und zu heilen und zu retten und zu begleiten, was verwundet ist.

 

Manche fragen sich, warum Jesus wegen dieser Botschaft angegriffen wurde. Ganz einfach, weil Religionen in ihren bestehenden Systemen allzu oft in Gefahr stehen, selbst zum Grund für Krankheit und Zweifel zu werden. Und also strebt er keine Reformation an. Ein bisschen Kirche vor Ort in neuen Gewändern. Ein bisschen Dialogforum. Ein bisschen Strukturreform. Im Grunde ist es eine Revolution, die er fordert. Nämlich die revolutionäre Überprüfung, ob all das, was wir tun, wie wir es tun und wenn wir es tun, der Gesundheit der Menschen dient. Der Bildung des Menschen dient. Der Pflege des Menschen dient. Der Teilhabe des Menschen dient und Lebensräume schafft, in denen jeder Mensch in Freiheit wählen kann, zu was er geboren ist, und in denen jeder Mensch die Hilfe bekommt, die er braucht, um geheilt leben zu können oder heilsam leben zu können. Und also wenn wir gefragt werden heute und in Zukunft, warum wir Anwalt sind für Menschen, warum wir Menschen assistieren, warum wir Menschen pflegen, warum wir Menschen begleiten, warum wir Menschen bilden, dann muss und wird die Antwort sein: Weil wir an einen Gott glauben, der seinen Sohn in diese Welt geschickt hat, damit wir Menschen menschlicher handeln. Und wenn wir gefragt werden, warum wir dabei nicht in Sack und Asche gehen, weil diese Welt manchmal so korrupt erscheint und so falsch und so zerbrochen, dann dürfen wir aufrecht sagen, weil wir davon überzeugt sind, dass sie noch von Gott durchzogen ist. Und deswegen arbeiten und leben wir in Freude und essen und trinken und sprechen mit ihm, Jesus: „Könnt ihr denn die Gefährten des Bräutigams zum Fasten anhalten, solange der Bräutigam bei ihnen ist.“ Amen.