Seitlich streichen für weitere Aufgabenfelder <>

Rezension "Lehrreiche Gedichte über das Alter"

Der Gedichtband „Zurücktreten aus der Erscheinung. Gedichte über das Alter“, herausgegeben von dem Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Helmut Bachmaier (Universität Konstanz), eröffnet uns einen neuen und anderen Zugang zur Gerontologie, zur Alternsforschung, zur Altenhilfe – eben aus der Perspektive der Sprache und mit den Farben der Poesie.

 

Die Themenvielfalt der Gedichte lässt mich erstaunen und ich muss erkennen, dass die Poesie schon vieles vorweggenommen hat. Beim Lesen stelle ich mir die Frage, weshalb ich je Gerontologie studiert oder mich intensiv mit dem Älterwerden beschäftigt habe. Viele Impulse für ein gelingendes Leben im Alter, Fragestellungen und manch gute Forschungsidee sind hier bereits beschrieben. Eine späte Einsicht, dass mir das Studium der Alternsforschung so viel vorenthalten hat. Mit Freude wird eine Forscherin oder ein Forscher und jeder reflektierende Mensch solch einen gerontologischen Poesieband in seinem Bücherregal haben wollen.

 

Es ist dem Herausgeber gelungen, aus einem Fundus von über 3000 Gedichten aus verschiedenen Zeit- und Stilepochen 118 Gedichte gekonnt auszuwählen. Aufwändig war vermutlich nicht das Sammeln, sondern vielmehr das Treffen einer guten Auswahl. Bei der Taxonomie orientierte er sich an den literaturwissenschaftlichen Kategorien Alterswerk und Altersstil sowie an der literarischen Typisierung wie Alterslob, Altersklage, Altersspott. Ebenso an empirischen Befunden der aktuellen Alternsforschung wie Übergänge, Männer- und Frauenaltern, Generationenbeziehungen oder Lebensbilanz u.a. Zugleich wurden Zeitepochen und Stilrichtungen der Poesie berücksichtigt; ich bin überrascht von manch bekanntem Namen.

 

Ich lese zügig ein Gedicht nach dem anderen und suche und finde ein, mein Lieblingsgedicht; für mich jenes von Ferdinand von Saar (S. 59): „Das aber ist des Alters Schöne, […]. Und also wird der Rest des Lebens/Ein sanftes Rückerinnern sein.“ Ich gebe ja zu, ein wenig harmonisch. Situationen die uns alltäglich gar nicht bewusst waren, werden durch das Lesen der Gedichte ausgelöst oder zum Klingen gebracht. Ich lese weiter und suche nach dem Gedicht, dass mir das Versprechen gibt, wie ich Zeit, Lebenszeit zurückgewinnen kann. Im Geiste kehre ich als Leser an meinem Geburtsort zurück und messe mein Leben von der Ausgangssituation weg. Die Poesie lehrt uns, aus der Gegenwart heraus zu leben. Rilke erinnert mich: „[…] aber erst das Verweilende lädt uns ein […].“ Denn wenn sich alte Freunde oder Freundinnen treffen und Erinnerungen austauschen, wissen sie sehr wohl, dass sie nie den Geschmack vergangener Tage wieder herstellen werden – was übrigens etwas sehr Tröstendes ist.

 

Und dann die kürzlich verstorbene österreichische Lyrikerin Friederike Mayröcker (1924-2021) mit ihrem Gedicht „Wird welken wie Gras“ (S. 200). Sie hat für den Herausgeber eigens eine aktuelle Nachschrift verfasst. Welch ein Trost „[…] ich meine wenn ich eine Fotografie v. damals, […] ein Zittern und Fliegen jetzt die ausgefallenen Haare.“ Auf S. 35/36 findet sich ein Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz „Gerontologie“. Wer wusste je, dass die Poesie hier der Altersforschung ein Gedicht widmete? Was für eine Aufwertung für dieses Wissenschaftsfeld. „Keiner mehr da an den sie sich wenden können./Alle Seiten im Adreßbuch leere Seiten[…].“

 

Im Nachwort bezieht sich der Herausgeber, wissenschaftlich fundiert und gut lesbar, auf die Kulturgeschichte des Alterns und spricht über die Literarisierung des Alters. Unser Selbstkonzept, also unsere Vorstellung vom Alter, beeinflusst unser tatsächliches Alter(n) mehr als uns bewusst sein mag. Dazu ein passendes Zitat von Goethe: „Wenn man alt ist, muss man mehr tun, als man jung war.“ Die Kulturgerontologie wäre der ideale Ort, wo die Literarisierung des Alters beheimatet sein oder behandelt werden könnte. Und doch darf bei der Deutung des Alters ein weiteres Zitat von Goethe nicht fehlen und es freut mich sehr, dieses hier zu finden: „Der Alte verliert eins der größten Menschenrechte: er wird nicht mehr von seinesgleichen beurteilt“ (S. 217, aus „Maximen und Reflexionen“). Wo wir uns doch in heutiger Zeit an Hochschulen und Bildungsinstituten so mit Messungen und Evaluierungen beschäftigen müssen – erlösend, dieses Zitat!

 

Auf der Rückseite des Einbandes, ein eindringliches Räsonnement von Paul Valery für alle selbstverliebten Altersforscher und Altersforscherinnen: „Ich habe mich selten aus den Augen verloren. Ich habe mich verabscheut, ich habe mich vergöttert. – Dann sind wir miteinander gealtert.“ So ist es, Poesie ist nicht alles, aber in der Poesie ist alles schon vorhanden.

 

Zurücktreten aus der Erscheinung. Gedichte über das Alter. Hrsg. Von Helmut Bachmaier. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. ISBN 978-3-8353-3973-8. Euro 20,00.

 

Prof. Dr. Bernd Seeberger, Gerontologe

Universität UMIT TIROL, A-6060 Hall in Tirol