Wir haben uns verändert
Ich finde alle Maßnahmen nachvollziehbar. Mund- und Nasenschutz. Abstand, Lüften, Hygiene. Und doch wehrt sich alles in meinem Inneren. Ich will riechen, spüren, berühren. Ja, ich will, dass es endlich vorbei ist. Eine Weile Abstand war ja okay. Eine Weile eigeschränkt zu sein, war auch okay. Aber jetzt muss es doch endlich vorbei sein. Aber es ist nicht vorbei. Das zu leugnen wäre unvernünftig und unverantwortlich. Aber was machen wir jetzt?
Vielleicht wäre es gut, einander einzugestehen, dass die letzten Monate uns bereits verändert haben. Die innere Angespanntheit ist zu einem bleibenden Zustand in uns geworden. Wieviel Abstand tut gut oder muss sein? Auf wieviel Nähe können oder müssen wir verzichten, womöglich dauerhaft? Mit wieviel Unverständnis müssen wir rechnen und es bleibend ertragen? Die Besuche sind weniger geworden. Hände reichen wir uns keine mehr. Umarmung? Fehlanzeige. Aber das Bedürfnis danach steigt. Es schmerzt der Gedanke, dass Abstand und vermehrte Einsamkeit zu unserer neuen Normalität wird. Wir gehen ganz unterschiedlich damit um. Es gibt Menschen, die es gar nicht mehr ertragen. Sie müssen Vorschriften brechen und flüchten sich in eine Normalität, die es gar nicht mehr gibt. Andere verkriechen sich daheim.
Ich habe keine endgültigen Antworten, nur vorsichtige Gedanken. Die Zeit des „Alles ist machbar“ ist endgültig vorbei. Und ganz einfach gesagt: Wir sind sterbliche, zerbrechliche, schutzbedürftige Menschen. Das waren wir zwar schon immer. Aber jetzt stellt sich die Frage ernster denn je, wie gehen wir mit unserer Sterblichkeit um. Für mich kann ich sagen: Ich halte die Vorschriften ein, halte Abstand, gehe nicht auf Feiern. Aber ich muss neue „Umarmungen“ finden bei Menschen, die meine Nähe brauchen. Ich meine wirkliche Nähe in untröstlichen Situationen. Ich versuche Begegnungen zu schaffen, die nicht ansteckend sind. Ich telefoniere mehr, schreibe Online-Botschaften. Spüre, dass es kein wirklicher Ersatz ist für eine Umarmung, und erlebe unendliche Spannung in mir. Die Augen müssen lernen zu umarmen, und meine Blicke müssen bei meinem Gegenüber Nähe spüren lassen, die berührt. Meine Worte müssen es versuchen und mein Körper Nähe ausstrahlen.
Viele leben in Familien, in denen wirkliche Nähe erlaubt ist, oder in häuslicher Gemeinschaft. Sie so zu gestalten, dass Nähe auch wohltuend ist, ist die neue Normalität. Sie nicht als selbstverständlich zu betrachten, gehört dazu, sie zu pflegen und wertzuschätzen.
Dass Nähe ein Schatz ist, der das Leben erst lebenswert macht, spüre ich in diesen Tagen. Hoffentlich bleibt das, wenn alles wieder „normal“ ist. Dass wir ein Gefühl füreinander haben, was schmerzt und uns zerbrechen lässt, und wie heilsam es sein darf, einander wieder berühren zu dürfen, wo heute nur Worte und Zeichen sein können. Die Zerrissenheit bleibt und auch die Sehnsucht.
Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle:anstifter 3/2020