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Unberührte Nähe

von Prälat Michael H. F. Brock - Heute ist der 3. April 2020. Das stimmt doch gar nicht, werden Sie denken. Heute, da Sie diese Zeilen lesen, ist es Mai. Aber heute – wie gesagt – ist es Anfang April, und ich bin gebeten worden, diesen Impuls zu schreiben.

Unberührte Nähe

 

Ich habe aber keine Ahnung, welche Worte im Mai wichtig und richtig wären. Gelten die Ausgangsbeschränkungen wegen Corona noch? Ist ausreichend Schutzausrüstung vorhanden? Sind die Zahlen der Infektionen bereits gesunken? Wie viele Menschen werden gestorben sein? Funktioniert unser Gesundheitssystem noch? Wie steht es in der Pflege und Betreuung? Wie geht es den Menschen, die wir betreuen und wie geht es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

 

Heute, Anfang April, habe ich nur Fragen und keine Antworten. Ich sehe aus meinem Fenster hinunter in den Garten, auf den Platz vor dem Liebenauer Schloss, Richtung Kantine und Kirche. Es ist niemand unterwegs. Die Veranstaltungen im Schloss sind abgesagt, die Kantine geschlossen, keine Gottesdienste, Ausgangsbeschränkung. Mehr als zwei Menschen sollen nicht zusammen sein an öffentlichen Orten. Die Sonne scheint, es geht ein eiskalter Wind.

 

Und Mitte Mai? Ich weiß es nicht. Angst, Zuversicht, Nähe, Distanz, Hamster, Einsamkeit, Freude, Feiern, oder Quarantäne? Ich weiß es nicht. Aber ich ahne, was in ein, zwei Jahren sein wird. Zumindest habe ich einen Traum davon, auch eine Hoffnung. Im Mai 2021 wird die Welt eine andere sein, weil wir anders sein werden. Jedenfalls träume ich davon. Ich träume, dass das Händeschütteln ein Zeichen des Vertrauens sein darf, eine Umarmung Geborgenheit schenkt und Zuneigung ausdrückt, die von Herzen kommt. Ich träume davon, dass Zeit nicht mehr verschwendet wird, sondern geteilt, genossen und mit Sinn erfüllt. Ich träume davon, dass wir unser Leben nach wie vor als zerbrechlich ansehen werden, aber uns nicht mehr fürchten müssen. Ich träume davon, dass Achtsamkeit zur Gewohnheit geworden ist, nicht voreinander, sondern füreinander. Ich träume davon, dass wir ein Gespür für Einsamkeit entwickelt haben, das uns näher zusammenbringt, uns Einsamkeit zu ersparen. Denn Einsamkeit braucht kein Mensch. Vielleicht haben wir Stille wieder schätzen gelernt und Ruhe. Ich wünsche mir wieder Briefe im Briefkasten, die lange unterwegs waren, und dass die Zeit, die wir einander schenken, als Geschenk empfunden wird. Ich träume davon, dass die Toten nicht vergessen werden und die Gesunden das Geschenk des Lebens nicht zu selbstverständlich nehmen. 

 

Und ich wünsche mir, dass wir im Jahr 2021 wieder feiern können, das Leben, uns selbst und mit anderen, ein Fest dankbaren Lebens, ein ehrliches Fest, weil wir endlich wieder wissen, auf was es ankommt. Achtsamkeit, die treu bleiben wird, und Begegnungen, die glücklich machen. Sorgen, die ernst genommen werden, und Nähe, die nie mehr unberührt sein wird. Ich wünsche mir das Leben zurück, ein geborgenes.

 

 

Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle: anstifter 2/2020